Vortrag in Frauenkirchen: Fünf Mythen über Migration

Die Volkshochschule organisierte eine der führenden Migrationsforscherinnen Österreichs, die Wallernerin Judith Kohlenberger, für einen Vortrag in die Gemeinde Frauenkirchen. Unter dem Titel „Migrationsbewegungen. Antriebskräfte und Widersprüche von Flucht" klärt die Expertin und Autorin zu fünf Mythen über Migration auf.
Der erste Mythos sei, dass wir uns im „Zeitalter der Migration“ befänden. „Die halbe Welt scheint auf der Flucht zu sein“, so dieser Mythos. Dass Migration „das brennendste Thema unserer Zeit“ sei, lässt sich jedoch nicht mit Zahlen belegen. Lediglich 3,6% der Weltbevölkerung sind Migratinnen und Migranten, wovon wiederum nur eine Minderheit auf der Flucht sind. Geflüchtete stellen nur 0,1 bis 0.3% der Weltbevölkerung dar. Von einem explosionsartigen Zuwachs an Migranten in den letzten Jahrzehnten könne ebenfalls keine Rede sein.
Der zweite Mythos handelt vom „Sturm auf Europa“. Dabei wird „dehumanisierende Sprache“ verwendet und Vergleiche mit beispielsweise „Naturgewalten“ gezogen. Demgegenüber stehen aber folgende Daten: Im Jahr 2022 wurden 83% der Geflüchteten weltweit in Entwicklungs- und Schwellenländer aufgenommen. 2015 fanden nur 6% der global Geflüchteten Zuflucht in der Europäischen Union. Denn: die meisten Migrationsströme findet man „innerhalb und zwischen benachbarten Ländern“. Kohlenberger erklärt zusätzlich: „Die allerwenigsten Migrationsbewegungen sind transkontinental, also über weite Distanzen.“
Gefühlte Wahrnehmung und belegbare Fakten
Beim dritten Mythos spricht Judith Kohlenberger über Gründe der Migration. Sie präsentiert das veraltete „Push-Pull-Modell“ der 1960er-Jahre als überholt. Die Theorie stelle erstens nicht die Frage nach Ressourcen und nehme zweitens an, dass Entwicklungshilfe vor Ort Migrationsströme zwingend reduziere. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Dazwischen stehe eine Lücke zwischen dem, was die Menschen wollen und dem, was ihnen möglich ist. Die Folge sei, dass eben Länder mit „mittlerem Einkommen“, also sogenannte Schwellenländer, die höchsten Emigrationsraten aufweisen. Länder mit deutlich geringerer wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung, beispielsweise Länder in Sub-Sahara Afrika, haben die „geringste anteilmäßige Emigration“, weil sich die Menschen diese nicht leisten können.
Mythos vier drehte sich um 2015 als „einzigartiges“ Ereignis. Bei Betrachtung der gesamten Asylanträge in der EU seit 1985 sticht 2015 hervor, doch erweitert man das Blickfeld bis in die 1950er, ändert sich die Sicht deutlich. „Nach dem Volksaufstand in Ungarn sind in den Jahren 1956 und 1957 insgesamt 200.000 ungarische Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gekommen. Alleine über die Brücke von Andau waren es 70.000. Das ist knapp so viel wie im gesamten Jahr 2015 zusammen“, ordnet die Forscherin Judith Kohlenberger das Ereignis historisch ein. Sie betont auch, dass in der Nachkriegszeit der Wohlstand in Österreich deutlich geringer gewesen ist als heute. Zusätzlich merkt sie an, dass, wie heute, sowohl starke Vorurteile gegen die ankommenden „Ausländer“, als auch eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung nachzuweisen war.
Der letzte Mythos handelte vom „Kampf gegen illegale Migration“. Dabei spricht sie von dem zentralen Widerspruch, dass es für einen Syrer beispielsweise keinen einzigen, legalen Fluchtweeg nach Österreich gibt. „Man kann nicht von außerhalb Österreichs Asyl beantragen. Das gibt es nicht“, erklärt die Expertin. Folglich muss jemand, der „legal“ Asyl beantragen möchte, zuerst physisch auf österreichischem Territorium sein, um einen Antrag überhaupt stellen zu können.
Weiters erzählte Kohlenberger auch vom sogenannten „Grenzschutzparadox“. Das Aufstocken der Grenzkontrolle wird mit der Bekämpfung des illegalen Schlepperwesens begründet. Die Forschung zeigt jedoch gut, dass dies wenig wirksam ist. Durch die Erschwerung eines Grenzübertrittes wird die Abhängigkeit Geflüchteter von Schleppern größer. Höhere Mauern oder Zäune zu bauen ohne die Ursachen zu kennen und diese zu behandeln bringe wenig und könne folglich das Problem sogar vergrößern.
Eine Untermalung mit Zahlen: 2005 hatte die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache ein Budget von 6,2 Millionen Euro. Es gab damals einen Rückgang von Asylanträgen in der EU um 350.000. 2022 liegt das Budget bei 754 Millionen Euro. Gleichzeitig gab es eine Zunahme an Asylanträgen um 188.000. Abschließend erklärt Kohlenberger: „Ein wichtiger Schritt in Richtung Veränderung ist, zu verstehen, wie widersprüchlich dieses System aufgebaut ist.“